Buchrezension: Honoré de Balzacs "Verlorene Illusionen"

Zeitgenössischer Roman

Der Alte Séchard ist mit unstillbarem Durst gesegnet. Die Gepflogenheiten der Jugendjahre verstärken sich im Alter. Je älter er wird, desto lieber trinkt er.

Der Alte Séchard verkauft seine Druckerei an seinen Sohn. Er verlangt den dreifachen Preis. Der Sohn willigt ein. Heiratet. Ein Kind kommt zur Welt. Der Schwager leiht sich Geld und verlebt es in Paris. Das Unglück nimmt seinen Lauf. Aber es geht auch um Liebe und Glück und Zeitungen und Partys.

Lesen Sie hier einen Gastbeitrag von Rainer Horn und seine Buchrezension zu Honoré de Balzacs "Verlorene Illusionen".

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Ich wollte Honoré de Balzacs „Verlorene Illusionen“ nicht fertiglesen. Weil ich die weidlich beschriebenen Niedergänge von Menschen in Romanen nicht mehr mag. Auch im Kino. Auch bei Filmen würde ich liebend gern einen Aufpreis zahlen für ein garantiertes „Happy End“.

Die gut 900 Seiten in der schönen gebundenen Ausgabe vom Hanser Verlag – in der Übersetzung von Melanie Walz – nehmen und nehmen und nehmen keine Fahrt auf. Zwei junge Burschen, die gern lesen, dichten und hochtrabend reden. In der Sonne sitzen. Statt arbeiten. Nach vielen Seiten – die Burschen lesen, dichten, reden und tun nix arbeiten. Da: Ein Lichtstrahl. Für mich wenigstens. Die erste Liebe. Die zwei Burschen heißen David und Lucien. Und David freit die ebenso schöne wie kluge Schwester vom Freund Lucien.

Aber halt, ich tue dem Start unrecht. Immer wieder: Wunderbar formuliert: „Der Junggeselle, der einem kleinen Branntweinfass ähnelte…“ Auch rätselhaft: „Eve war groß und brünett, mit schwarzen Haaren und blauen Augen“.

Meine Frau erstaunt mich manchmal. Ich sage: "Du siehst heute wieder sehr schön aus." Sie: "War ich gestern nicht schön?" Ich hielt das bisher für eine sehr spezielle Eigenheit meiner sehr speziellen Ehefrau. Aber nun weiß ich mehr. David zur schönen und geliebten Eve, beim ersten Spaziergang. Sie sagt, er sei am Anfang vom Spaziergang so schweigsam gewesen. Darauf er: „Ich fand Sie so schön, dass ich wie benommen war“. Darauf Eve: „In diesem Augenblick finden Sie mich also weniger schön?“ Also nix mit spezieller Eigenheit meiner speziellen Ehefrau. Sondern weibliches Weltwissen.

Dann der schöne Lucien in Paris. Haut das Geld raus und man spürt schon, das wird nix. Aber dann: Erfolg bei der Zeitung. Und bei den Frauen. Der erste Artikel, den er schreibt, ein Genuss, riechen Sie rein, es geht um ein Theaterstück. Anmerkung: Ein Alkalde ist ein Bürgermeister. Jetzt, Zitat vom ersten Artikel: "Man tritt auf, man tritt ab, man redet, man paradiert, man sucht etwas und findet nichts, Verwirrung allenthalben. Der Alkalde hat seine Tochter verloren und findet seine Nachtmütze wieder, doch die Mütze passt ihm nicht, sie muss einem Dieb gehören. Wo steckt der Dieb? Man tritt auf, man tritt ab, man redet, man paradiert, man sucht aufs Neue."

Das war scheinbar 1820 rum der Auslöser für einen neuen Schreibstil. Heute heißt dieser Stil „Hornscher Stil“. Man findet ihn in Mein EigenHeim Online. Jetzt aber noch der Erfolg bei den Frauen. Man freit eine schöne Schauspielerin. Nein, andersrum, die schöne Coralie verliebt sich in den schönen Lucien. So dann des Nachts: "Er sah Coralie an. Im Handumdrehen war Coralie entkleidet und schmiegte sich wie eine Natter an Lucien." Ab der Stelle fängt nicht nur Lucien Feuer. Sondern auch ich wieder für den Roman. Dieser galoppiert durch die Redaktionsstuben, die Läden der Buchhändler, die Restaurants, Theater und immer wieder durch Coralies Bett. Lucien steigt auf zum gefragtesten Journalisten. Dann Überheblichkeit, Verführbarkeit, Dummheit. Gelage und Spielsucht. Es geht abwärts. Da will ich dann wieder aufhören mit Lesen. Meine Rettung: Audible. Also Hörbuch. Gelesen von Christian Brückner. Der hat auch "Der Pate" von Mario Puzo vorgelesen. Unbedingt vorlesen lassen! Beide Romane!

Also Zusammenbruch in Paris, und kaum zum Aushalten, die wunderschöne Coralie stirbt und aus, aus, aus ist es mit Lucien Chardon. Er läuft heim aufs Land. Lässt sich von Freund David, Schwester Eve und der Mutter wieder aufpäppeln und ruiniert in kurzer Zeit deren gesamte Existenz. Das könnt‘ es gewesen sein, wär da nicht die Begegnung mit einem Jesuiten, Priester oder einem Gesandten aus Spanien, man erfährt es nicht so genau. Der spanische Gesandte hält Lucien einen Vortrag. Quasi Traktat des Steppenwolfs, falls Sie Hermann Hesse kennen. Bei Balzac tönt das Traktat so: „Das A und das O besteht darin, sich der Gesellschaft anzugleichen. […] Ihre Gesellschaft betet nicht mehr den wahren Gott an, sondern das goldene Kalb. […] Es graut dem Menschen vor der Einsamkeit. Und unter allen Arten der Einsamkeit ist die seelische Einsamkeit die schrecklichste.“ Also mir gefällt das Traktat des spanischen Gesandten besser als das vom Hermann Hesse.

Na und überhaupt. Ein Roman der bereits unserem Zeitgeist vorgreift, lesen Sie selbst: „Schweinefleisch fördert Entzündungen“. Und auch schon Low Carb als Heilsversprechen: Dem kranken Lucien verordnet der Arzt eine Flasche Rotwein und einen Räucheraal. Und dann Seite 630, die schönste aller Charakterbeschreibungen, passen Sie auf – für Lucien, den Luzifer des Buchs: „Er kann im einen Augenblick mutig sein und im nächsten feige. Und man muss ihm seinen Mut ebenso wenig hoch anrechnen wie ihm seine Feigheit vorwerfen, denn Lucien ist eine Harfe, deren Saiten abhängig von den atmosphärischen Veränderungen straff oder schlaff sind“.

Jetzt Richtung Schluss, göttlich. Es gibt für die Beschreibung des kommenden Unheils sehr schöne Formulierungen. Meine Prägung (in Sachen kommendes Unheil) ist Joseph Roth, fühlen Sie hin: "Die Karotten verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln erfroren, die Suppen wässrig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten mager, die Gänse hart und die Hühner ein Nichts." Jetzt bei Balzac, das kommende Unheil bei David und Eve, in Folge eines Briefes vom Luzifer-Bruder: "Zwei Tage nachdem sie diese Antwort gelesen hatte, fand Eve sich genötigt, eine Amme zu nehmen, denn ihre Milch versiegte."

Fazit 1: Auf dem Land sind die Leute grad so fies wie in Paris.

Fazit 2: Happy End auch ohne Aufpreis. David und Eve kaufen ein Haus auf dem Land. Mit Weinberg.

Lesen Sie Honoré de Balzac: "Verlorene Illusionen". Sie werden zukünftig vorsichtiger Zeitung lesen, Papier mehr schätzen und lieber auf dem Land wohnen. Im Eigenheim.

Honoré de Balzac: Verlorene Illusionen. dtv, ISBN: 978-3-423-14558-9, 22 Euro.

Dieses Buch wurde auch verfilmt: Hier geht's zum Trailer

Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Rainer Horn. Seine gesamten Buchrezensionen finden Sie hier: Buchrezensionen unseres Gastautoren Rainer Horn »