Buchrezension: Adalbert Stifters "Der Nachsommer"

Adalbert Stifter Der Nachsommer Buch Cover Collage

Liebesroman zum Entschleunigen

Adalbert Stifters "Der Nachsommer" ist ein zur Mitte des 19. Jahrhunderts entstandener erzählerischer Liebesroman. Ein Klassiker.

Lesen Sie hier einen Gastbeitrag von Rainer Horn und seine Buchrezension zu Adalbert Stifters "Der Nachsommer".

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Karsten Dusse legt in „Achtsam Morden“ dem Achtsamkeitscoach Joschka Breitner eine Achtsamkeitsfibel in die Hand. Titel: „Entschleunigt auf der Überholspur“. Der Titel für Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“ könnte auch lauten: "Entschleunigt auf der rechten Spur". Der Roman setzt weder zum Überholen an, noch nimmt er Fahrt auf.

Das ist nicht nur entschleunigend, das ist eine 800-seitige Achtsamkeits- und Geduldsübung.

Ich habe die Taschenbuchausgabe vom Insel Verlag. Cover von Emile Friant: „Die Liebenden“. Das erkennt man auch. Und damit ist klar, worum es geht. Zwei die sich suchen. Zwei die sich finden. Zwei die sich kriegen.

Aber wann endlich, fragt man sich?

Wann endlich, fragt man sich auf Seite 35 bei dem Satz „In einem Tale, an seinem sehr klaren Wasser, sah ich einmal einen toten Hirsch.“

Wann endlich, fragt man sich auf Seite 123 bei den Worten „Ich ging zu dem großen Kirschbaume“.

Wann endlich, fragt man sich auf Seite 313 bei den Worten „Die Männer gefielen mir …“.

Dann, auf Seite 319, nimmt man verwirrt zur Kenntnis, „dass die innige, wahre und treue Liebe der alternden Gattin fester und dauernder beglückt“.

Doch dann geht es Schlag auf Schlag. Bereits auf Seite 413 spricht er sie an: „Mir gefällt auch dieses Land“.

Um dann auf Seite 471 gemeinsam auf einem Bänklein zu sitzen und − man wagt es kaum noch zu glauben – zu seiner Natalien zu sagen: „Wie wallt mein Herz in Freude!“. Ja, dann küssen sie sich.

Ja, es erwacht etwas im Heinrich. Langsam.

Man kann es anfangs kaum ahnen. Als er auf einer Wanderung ein Haus entdeckt. Ein Haus, das – nein, zuerst zog ein Gewitter auf. Auf der Suche nach Schutz findet Heinrich das Haus. Aber was für eines!

„Das Haus war über und über mit Rosen bedeckt,…“. Gar wie beim Grimmschen Dornröschen. „Ja hundert Jahr werden her sein / da schlief das ganze Schloss grad ein / und Rosenhecken allgemach / umwuchsen Mauern, Tor und Dach.“

Doch beim Dornröschen schlummert so eine überbehütete jungfräuliche Prinzessin drin, die wachgeküsst werden muss. Bei Adalbert Stifter ist es der Jüngling selbst, der ebenso überbehütet jungfräulich immer wieder Monate im Rosenhause verbringt. Bis sich sein Wachsen und Gedeihen in Zeichnen, Musizieren, Forschen, Steineklopfen, Philosophieren und Rosen beschauen so aufspannt, dass es sich in lebenslängliche Liebe ergießt.

Ein Roman als Geduldsprobe. Ein Roman als Achtsamkeitsübung. Ein Roman zum wirklich und tatsächlich Entschleunigen. Also nicht nur drüber reden. Es beim Lesen üben und tun, üben und tun, üben und tun. Lesen Sie: Adalbert Stifter. Der Nachsommer. Am besten die Taschenbuchausgabe vom Insel-Verlag.

 

Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Reclam, ISBN: 978-3-150-18352-6, 13 Euro.

Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Rainer Horn. Seine gesamten Buchrezensionen finden Sie hier: Buchrezensionen unseres Gastautoren Rainer Horn »