Buchrezension: "Krieg und Frieden" von Leo Tolstoi
Meisterwerk der russischen Literatur
Bei Krieg und Frieden fließt der epische Strom, anfangs schmal, wird immer breiter und mächtiger – und trägt über Wochen der Lektüre. Wochen mit Tolstoi, mit den Rostows, Bolkonskis, Besuchows und Kuragins. Trägt in Paläste und Kaschemmen, in Ballsäle und auf Schlachtfelder.
Lesen Sie hier einen Gastbeitrag von Rainer Horn und seine Buchrezension zu Leo Tolstois "Krieg und Frieden".
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„Die Gräfin hatte ein mageres Gesicht von orientalischem Typus. Sie war etwa fünfundvierzig Jahre alt; und offenbar durch die Entbindungen, deren sie zwölf durchgemacht hatte, stark mitgenommen. Die von ihrer Kraftlosigkeit herrührende Langsamkeit ihrer Bewegungen und ihrer Sprache verlieh ihr ein vornehmes Wesen, welches Respekt einflößte.“
So tönt der Friede. Bei Tolstoi. Tiefsinnig, fast eine Spur humorig. Aber das Buch heißt ja: „Krieg und Frieden“.
Der Krieg klingt weniger schön: „Bald nachdem Fürst Bagration weggeritten war, war es dem Hauptmann Tuschin gelungen, das Dorf Schöngrabern in Brand zu schießen. Seht nur, wie sie durcheinanderkribbeln. Es brennt!“
Und weiter, aus der Perspektive des Fürsten Andrej Nikolajewitsch Bolkonski: „Das erste, was er erblickte, als er auf das Plateau geritten kam, auf welchem Tuschins Kanonen standen, war ein ausgespanntes Pferd mit durchschossenem Bein, das neben den angespannten Pferden wieherte. Aus seinem Bein floß das Blut wie aus einer Quelle. Zwischen den Wagen lagen mehrere Tote.“
Krieg und Frieden ist ein historischer Roman des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi. Der Stil ist realistisch. Und: Der Roman gehört zu den bedeutensten Werken der Weltliteratur. Und hat 1.532 Seiten. Ehrlich: Eintausendfünfhundertzweiundreißig. Naja, alle Harry-Potter-Romane zusammen bringen es auf 4.192 Seiten.
Was er auch hat: Die später modern werdende Montagetechnik. Verschiedene Geschichten ineinander verwoben. Hier in der Zeit von 1805 – 1812. Mit den Kriegen von und um Napoleon. Montiert als Krieg und Frieden. Kapitel oder Teile aus dem Krieg mischen sich mit denen des Friedens. Meistens des adeligen Friedens. Es geht um die Feudalen in Russland. Die nebenbei bemerkt, zu der Zeit noch recht gern Französisch sprachen. Wie der Rest in Europa. Also auch der Schwabe, der Bausparer und – nein, den Bausparer gab es damals noch nicht.
Sehr schön der Wandel, den Peter Kirillowitsch Besuchow erlebt. Anfangs belächelt, weil er unbeholfen, ungeschickt und besserwisserisch durch die abendlichen Happenings der guten Gesellschaft stolpert. Dann, durch eine große Erbschaft in seiner Wirkung gewandelt: „Aber jetzt wurde alles was er sagte, als charmant betrachtet. Selbst wenn Anna Pawlowna das nicht geradezu aussprach, sah er doch, daß sie es eigentlich sagen wollte und es nur aus zarter Rücksicht auf seine Bescheidenheit unterließ.“
Land- und Stadtleben der Zar-Alexander-Zeit: harmonische Familienfeste bei Namenstagen, Hausmusik, Teepartys mit Freunden, Vorteilsbeschaffung in der Militär- und Regierungshierarchie, Verkupplungen, Heiratspolitik, Bälle als Gelegenheit der Wichtigmacherei und Vernetzung, Theater- und Opernbesuche, Naturstimmungsbilder mit Schlittenfahrten und Jagden auf Wölfe, Weihnachtsbräuche, Wirtshaus- und Straßenszenen. Das alles und noch viel mehr steckt drin im Jahrhundertroman.
Und, so viel sei verraten: Es endet schön, geläutert, reduziert, gemittet und weise: „Pierre sagte nun das, wozu er angesetzt hatte. … Ich wollte nur sagen, daß alle Ideen, die einen gewaltigen Erfolg haben, immer einfach sind. Meine ganze Idee besteht darin: Wenn die lasterhaften Menschen sich zusammenschließen und dadurch eine Macht werden, so müssen die ehrenhaften Menschen dasselbe tun.“
Also: Wagen Sie sich an „Krieg und Frieden“. Das bringt Ihnen Anerkennung in der feudalen Zeitgeistgesellschaft. Als mein Sohn Emil (12) der Geschichtslehrerin berichtete, dass er grad von Fürst Andrej in Krieg und Frieden lese, war sie sprachlos. Aber mein Tipp: Drucken Sie sich vorher die Tabelle der Namen und Familien aus Wikipedia aus. Es sind über 100. Sonst geht es Ihnen wie mir und Sie verlieren den Überblick. Wer mit wem und was dann wann und wer was erbt und wer da grad fällt.
Und noch eins. Damals (1868 erschienen) hatte „Krieg und Frieden“ eine enorme Wirkung, weil, so meint Stefan Zweig: „die Sinnlosigkeit des Ganzen (des Krieges) sich in jeder Einzelheit spiegelt“. Das ist jetzt gerade und immer wieder topaktuell.
Krieg und Frieden von Leo Tolstoi ist ein „episches Riesenwerk“ (Thomas Mann) und wurde in die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher aufgenommen.
Aber, hier mein letztes Aber in der Reihe meiner Abers: Sparen Sie nicht! Also nix mit Anaconda-Verlag und 9,95 EUR. Kaufen Sie die Hanser-Ausgabe mit der hochgelobten Übersetzung von Barbara Conrad. Barbara Conrads kluge und gründlich kommentierte Übersetzung bietet Ihnen besten Lesegenuss. Lesegenuss am größten Roman aller Zeiten. Kaufen Sie, lesen Sie, verschenken Sie (auch an Weihnachten): Leo Tolstoi: Krieg und Frieden.
Leo Tolstoi: Krieg und Frieden. Anaconda Verlag, ISBN: 978-3-86647-176-4, 9,95 Euro.
Dieses Buch wurde auch verfilmt: Hier geht's zum Trailer
Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Rainer Horn. Seine gesamten Buchrezensionen finden Sie hier: Buchrezensionen unseres Gastautoren Rainer Horn »