Buchrezension: Dörte Hansens "Mittagsstunde"

Was bleibt von uns, wenn alles, was wir kannten, untergeht? Mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Verschwinden einer bäuerlichen Welt, von Verlust, Abschied und von einem Neubeginn.

Lesen Sie hier einen Gastbeitrag von Rainer Horn und seine Buchrezension zu Dörte Hansens Roman "Mittagsstunde".

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Sagt sie zu ihm: Wenn einer von uns beiden stirbt, zieh ich nach Sylt.

Auch die Jungsteinzeitler hat es schon nach Sylt gezogen. Da war allerdings alles noch am Stück. Sylt und die Küste von Nordfriesland. Ohne Wasser dazwischen. Die Dörfer da oben (oder unten – wie man will) heißen heute Irgendwas-büll. Also Tetenbüll, Sönnebüll, Wobbenbüll und ja, Poppenbüll − und schlimmer noch: Kotzenbüll. Das ist auch die Meinung von Ragnhild zum Dorf des Geschehens, nämlich „Brinkebüll“. Da spielt die Geschichte. Da gibt es die Mittagsstunde. Und da schleicht Ella manchmal zu ihrem Krischan.

Wenn Sie einen Namen für Ihr Kind suchen und im Waldkindergarten Eindruck machen wollen, dann lesen Sie Dörte Hansens "Mittagsstunde". Ragnhild, Sönke, Marret, Dörte, Bahne, Sünne und Ingwer. Auf den kommen wir gleich noch zurück.

Hinzu kommen geschöpfte Namen des Dorflebens, die die individuellen Charakterzüge und Eigenschaften deutlicher hervorheben: Karl-Heinz Duncker heißt im ganzen Dorf nur Kakadudu, weil er so stottert. Heinrich Wolbersen heißt Haumi Wolbersen, weil seine Frau ihn ab und zu vermöbelt. Dietrich Eggers heißt Büggdich Eggers. Warum auch immer. Wohl weil von „de anner Partei“.

Ingwer Feddersen kennt seinen leiblichen Vater nicht, obwohl er bei ihm in die Schule geht. Ingwer Feddersen pflegt seinen Stiefvater, obwohl der sein Opa ist. Ingwer Feddersen lebt in einer Dreier-WG, obwohl er sich Ragnhild mit Christian teilen muss. Es ist so, weil − passen Sie auf: Sönke Feddersen spät aus der russischen Gefangenschaft zurückkehrt. Und Ingwer Feddersen lebenslang zu viel kifft. Naja, letzteres ist meine Erklärung.

Wenn Sie aufs Land ziehen wollen, dann lesen Sie Dörte Hansens "Mittagsstunde". Und lernen Sie gleich die wichtigste Lektion: Es gibt für die Eingeborenen zwei Gruppen bei den neu Zugezogenen. Gruppe 1: Sech Moin. Gruppe 2: Sech kein Moin. Gruppe 2 (sech kein Moin) ist nach der 3. Chance für immer unten durch.

Wenn Sie in der Stadt bleiben wollen, dann lesen Sie Dörte Hansens "Mittagsstunde". Weil: Dann wissen Sie, warum es auch gute Gründe gibt, dem Landleben und den Landlust-Ideen zu fliehen.

Nur, falls Sie zufällig so was sind wie ein Pfarrer oder Pastor oder Seelsorger oder Diakon oder Kaplan − auch Warnung: „Der Hirtenjob war hart hier draußen. Die Sorte Schaf schien gegen jeden Glauben imprägniert zu sein.“ Und später: „Wenn es etwas gab, was ihnen heilig war, dann die Mittagsstunde“. Also nach dem Essen mal eine Stunde hinlegen. Die Folgen hatte Ella Feddersen, die Wirtin, gut im Griff. Bei den Familienfesten in der Gastwirtschaft achtete sie sorgfältig darauf, dass Kinder, die sich sehr ähnlich sahen und aus verschiedenen Familien stammten, nicht nebeneinander saßen. Ella Fedderson, groß, blond, schön und schweigsam. Mit Sönke Feddersen teilt sie Arbeit, Haus, Freud, Leid und Bett.

Mit Sönke Feddersen teile ich den Konfirmandenspruch. Sprüche 16, Vers 3. Sönke Feddersen ist der Wirt der dörflichen Gastwirtschaft. Sönke Feddersen nimmt die Abkürzung. Nix trinken bis 22 Uhr, dann Korn oder Kümmerling. Sönke Feddersen erfindet das Tragetuch für Deutsche schon 1967. Als er sich den kleinen Ingwer zur Brust nimmt. Der Opa trägt den kleinen frierenden Hüstling unter dem Hemd.

Mit 93 haucht Sönke sein Leben aus. Eine Woche vor dem großen Fest. Der Gnadenhochzeit. 70 Jahre verheiratet. Seine Frau Ella überlebt ihn. Ella Feddersen, die Wirtin. Groß, blond, schön und schweigsam. Nun alt und vergesslich. Zieht nicht nach Sylt. Sondern ins Pflege-Heim für Demenzpatienten.

Und Ingwer − raucht weniger und sortiert sein Leben. Mit 48. Wird aber auch Zeit. Ich empfehle Ihnen: Nehmen Sie sich die Zeit und lesen Sie Dörte Hansens "Mittagsstunde".

Dörte Hansen: Mittagsstunde. Siedler, Penguin Random House, 978-3-328-10634-0, 12 Euro