Buchrezension: "Winter im Sommer − Frühling im Herbst" von Joachim Gauck
Autobiografie des ehemaligen Bundespräsidenten
Joachim Gauck erinnert sich − an seine Zeit als engagierter Systemgegner in der friedlichen Revolution der DDR und wichtiger Protagonist im Prozess der Wiedervereinigung als erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.
Lesen Sie hier einen Gastbeitrag von Rainer Horn und seine Buchrezension zu Joachim Gaucks Autobiografie "Winter im Sommer − Frühling im Herbst".
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Aktenzeichen XY … ungelöst. Eduard Zimmermann. Eduard Zimmermann, der einmal pro Sendung nach Österreich schaltet. Zu Peter Nidetzky. Und einmal in die Schweiz. Zu Konrad Toenz. Die Sendung war immer extrem spannend. Zwei Gründe: Wie ein Krimi. Also Polizei sucht Verbrecher. Und: echt. Also es gruselte einen, weil – das gab es wirklich. Grad konnte einer ums Haus schleichen, mit Strumpfmaske und Taschenlampe.
Genauso ist es bei Joachim Gauck und „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“. Auch da ist das Buch sehr sehr spannend. Auch da zwei Gründe: Es liest sich wie ein Lebens- und Entwicklungs- und Menschwerdungsroman. Und: echt. So war es wirklich. Damals in der DDR.
Der Vater von Joachim Gauck wurde wirklich von der Geheimpolizei der Russen abgeholt und ins Gulag (sibirisches Arbeitslager) verfrachtet. Und kam halb verhungert zurück. Aber: nicht gebrochen. Der junge Joachim Gauck war wirklich Pfarrer. Und der „wind of change“* wehte zuerst in den Kirchen und breitete sich von da zu Demos aus. Dann kam „Wir sind das Volk“.
Wussten Sie, dass die Jugend der DDR im letzten Jahrtausend auch „Schwerter zu Pflugscharen“ auf die Jacken nähte und wenn‘s möglich gewesen wäre, aufs (nicht vorhandene) Auto gebäppt hätte? Nur: Der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ hat dazu geführt, dass du kein Abi gekriegt hast. Kein Studium. Keinen ordentlichen Beruf. Keine Wohnung. Und keinen Trabbi.
Wussten Sie, dass vor dem Bau der Mauer 1961 die ostdeutschen Pfarrer, lebend im realen Sozialismus, sehr sehr überrascht waren, beim Besuch der West-Kollegen? Die waren (lebend im Nicht-Sozialismus) enorme Verfechter vom realen Sozialismus.
Jetzt aber zur Hauptfigur: Joachim Gauck. Mein Mann der deutschen Geschichte. Erst kürzlich, im September, um meinen Geburtstag rum, durfte ich ihn sehen. Erst Vortrag, dann im Interview mit Linda Zervakis und Bernd Hertweck. Ich hatte ihn schon immer im Herzen, aber ab da ganz ins Herz geschlossen: Joachim Gauck, Pfarrer, Stimme des Aufbruchs in der DDR, Verwalter der Stasi-Akten („Gauck-Behörde“) und Bundespräsident.
Aus der Feder von Joachim Gauck, Seite 42 − halten Sie sich fest: „In der Welt der Jasager musste es die geben, die es wagten nein zu sagen oder wenigstens nein zu tun.“
Na, und immer erfreulich, bissle Humor hat er auch, Seite 59: „Im Osten hingegen ließ uns die Kleidung wie Jungrentner aussehen.“
Meine Lieblingsstelle, Seite 205 (ja, das Buch hat mehr als 300 Seiten) ... also meine Lieblingsstelle, ergreifend, weil gut, aber auch weil: Das ist wirklich so passiert!
19. Oktober 1989, Marienkirche, Rostock: 5000 Besucher im Kirchenschiff (der Innenraum) und schwitzen, obwohl draußen kalt. Weil dicht gedrängt. Joachim Gauck predigt. „Selbstgerechtigkeit tötet, Gerechtigkeit rettet.“ Es gibt Menschen, die sich noch ducken, beugen in der DDR. Zu Recht. Weil lange gelernt und viel Schlimmes erlebt. Aber auch solche, die „plötzlich ihrer Angst auf Wiedersehen sagen und den aufrechten Gang trainieren“.
Seien Sie aufrecht und lesen Sie: Winter im Sommer, Frühling im Herbst. Man kann es auch im Herbst lesen. Oder zu Weihnachten geschenkt bekommen. Oder anderen schenken.
* Anmerkung (für Nicht-Hardrocker): Wind of change, der Wende-begleitende Rock-Song der deutschen Rockband „Scorpions“.
Joachim Gauck: Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Siedler, ISBN: 978-3-8868-0935-6, 12 Euro
Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Rainer Horn. Seine gesamten Buchrezensionen finden Sie hier: Buchrezensionen unseres Gastautoren Rainer Horn »